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Strenge Regeln in einer pietistischen Familie

Renate B., geboren 1933, wuchs unter pietistischen Pfarrer-Eltern und drei Brüdern im Erzgebirge (u.a. Wernigerode) auf. Nach dem Krieg gelang ihr der Sprung aus der DDR in den Westen, wo sie in Berlin die MTA-Schule besuchen und in Würzburg Medizin studieren konnte. Ihre Eltern sind später nach Westberlin gezogen. Dort lebte Renate später mit ihrer Mutter zusammen, zu der sie eine enge Bindung hatte – im Gegensatz zum Vater. Nach einer gescheiterten Ehe fand sie im mittleren Alter ihr privates Glück mit Rolf-Rainer H.


Unser Vater: Fromm und bibeltreu

Mit 40 Jahren wurde mein Vater 1940 als Rekrut eingezogen, obwohl er im Ersten Weltkrieg bereits gekämpft und seinen Bruder verloren hatte. Er war aus der Schule heraus einberufen worden und hätte eigentlich Marineflieger werden wollen. Aber dann ging der Krieg (1914/1918) verloren. Nun war er wieder Soldat und kam in ein Ausbildungslager auf Sylt (Puan Klent, heute ein Hamburger Jugenderholungsheim).

Mein Vater hat nicht gern von dieser Ausbildungszeit erzählt. Es muss wohl schlimm gewesen sein.

Während des Krieges haben wir unseren Vater kaum gesehen.

Wir Kinder waren nicht sehr traurig, dass unser Vater selten zu sehen war, denn er war Anhänger der Pietisten (1), bei denen Strenge, Frömmigkeit und Bibeltreue einen hohen Stellenwert hatten.


Für uns Kinder war das Schlimmste, dass wir zu jedem Gottesdienst gehen und Vorbild sein mussten. Jede Mahlzeit begann und endete mit einem Gebet. „Böse“ Worte waren strengstens verboten. Ich durfte auch keine Tanzstunde besuchen oder mit einem Jungen „poussieren“ (flirten, schmeicheln). Auch ins Kino durften wir nicht, höchstens mal in ein Konzert.


Wir mussten auch so etwas wie ein Bekenntnis ablegen, dass man eingesehen hat, wenn man etwas Unrechtes getan hatte, und dass man dieses aufrichtig bereute. Zum Beispiel, wenn wir mal genascht hatten, was streng verboten war. Oder wenn wir gar mal gelogen hatten. Wir mussten dann sagen, dass es uns leid täte und dass es nicht wieder vorkommen würde. Anschließend war man erleichtert, denn man hatte vorher ja auch schon ein schlechtes Gewissen gehabt.


Die Kekse wurden immer in einer verschlossenen Kiste in der Speisekammer aufbewahrt. Wenn es mir mal gelang, ein Plätzchen zu erwischen, fiel es meiner Mutter immer auf. Dann hieß es „Da fehlt eins. Es sieht aus, als ob es wieder die Renate genommen hätte. Warst du es, Renate, gib es zu!“ Meine Mutter hätte mir wahrscheinlich ein Plätzchen gegeben, wenn ich sie gebeten hätte.


Bestrafungen

Das Nachhausekommen meines Vaters habe ich in schlechter Erinnerung, weil er sofort meine Mutter gefragt hat, was wir wieder „angestellt“ hätten. Besonders meine Zwillingsbrüder hatten Dummheiten im Kopf, z. B. haben sie die Luft aus Fahrradreifen gelassen.

Mein Vater schlug die Jungs mit dem Ochsenziemer (2). Einmal wurde auch ich in so eine Strafaktion einbezogen, denn wir Kinder waren nach dem Baden in den Garten gelaufen und schmutzig zurückgekommen. Obwohl meine Mutter mich verteidigte, bekam ich einen Hieb ab.


Als ich wohl etwa 16 Jahre alt war, ging ich mit einem jungen Mann aus dem Kirchenchor zusammen nach Hause. Vor unserer Haustür hat er versucht, mich zu küssen. Gerade in diesem Augenblick kam mein Vater um die Ecke, der natürlich fuchsteufelswild wurde. Ich rannte schnell ins Haus in mein Zimmer, legte mich ins Bett und tat so, als ob ich schliefe. Aber mein Vater stürmte in mein Zimmer und schlug mit einem Handtuch auf mich ein. „Du weißt doch, ich will nicht, dass du mit jungen Männern poussierst.“


Meine Mutter gab mir nur manchmal einen Klaps gegen meine Schulter, wenn sie mich tadeln wollte. Mehr nicht!

Als ehemalige Lehrerin hat sie mich sehr bei den Schulaufgaben unterstützt. Ich hatte keine ausgesprochene Begabung für Sprachen. Dabei konnte sie mir gut helfen. Ich habe lieber Klavier oder Geige gespielt. Ich behaupte heute, dass ich ohne die liebevolle Hilfe meiner Mutter bei den Schularbeiten meine Schulzeit nicht so gut überstanden hätte und ohne eine „Ehrenrunde“ das Abitur machen konnte. Sie war sehr geduldig bei diesen Schularbeiten, aber es musste immer alles sehr korrekt sein, sonst wurde Mutter auch schon mal eine „strenge“ Lehrerin!


Haushaltspflichten

In unserer Familie waren die Haushaltspflichten sehr ungerecht verteilt. Ich als Mädchen musste in der Küche helfen, Kartoffeln schälen, Gemüse putzen, spülen etc.

Wir hatten zwar auch ein Hausmädchen. Leider wurde sie 1943 als Luftwaffen- oder Marinehelferin eingezogen. Ein Großteil ihrer Arbeit blieb natürlich an mir hängen. Da meine Mutter nicht gern kochte, habe ich das manchmal getan.

Wenn es nicht geschmeckt hat oder angebrannt war, schimpften vor allem meine älteren Brüder: „Renate hat wohl wieder zu viel Klavier gespielt!“ Und wenn irgendetwas auf dem Tisch fehlte, musste ich immer laufen, um es zu holen.

„Renate, spritze!“, riefen meine Brüder. Wenn ich dann heulte, riefen sie: „Pumpen, wenn das Wasser kommt!“ Es war demütigend und ärgerlich.

Nur wenn ich strickte, was ich gern, gut und oft tat, mussten meine Brüder für mich einspringen. Sie freuten sich aber immer auf neue Socken oder Schals.


Ich fand es immer ungerecht, dass meine Brüder zum „Nichtstun“ erzogen wurden. Wenn ich mich beschwerte, dann wurde darauf verwiesen, dass die Brüder ja Holz hacken und Kohle aus dem Keller holen mussten. Ich fand das unglaublich ungerecht. Doch ich denke, diese Rollenverteilung war damals normal in den Familien.

Eines Tages hatte ich genug von der Ungerechtigkeit, fasste Mut und verlangte von meinen Eltern mehr Taschengeld. Sogar mein Vater sah ein, dass ich recht hatte.

Ich bekam 2 Mark mehr und damit mehr als meine Brüder, die zuerst sauer waren, dann aber einsichtig.


Weihnachten

Gern erinnere ich mich an unsere Weihnachtsfeste. Schon zum ersten Advent bekamen wir ein großes Lebkuchenherz, das wir jedoch nicht „anknabbern“ durften. Am Samstag vor dem 1. Advent, zum Beginn des Kirchenjahres, stellten wir am Abend unsere geputzten Schuhe vor die Tür und legten unsere Weihnachtswunschzettel hinein. Nikolaus kannten wir nicht. Die Geschenke brachte das Christkind, zumindest bis man als Kind nicht mehr daran glaubte. Ich habe lange daran geglaubt. Wir hatten auch einen Adventskranz und einen Adventskalender mit 24 Türchen, hinter denen allerdings nur Bildchen zu sehen waren und keine Schokolade.


Es war bei uns üblich, dass der Weihnachtsbaum im Wohnzimmer einen Tag vor Heiligabend von meinem Vater alleine geschmückt wurde. Wir durften nicht dabei helfen. Wir mussten nur die Kisten mit dem Weihnachtsschmuck aus dem Keller holen.

Meine Mutter hat am nächsten Tag die Gaben auf den Tisch gelegt und einen „süßen Teller“ für jeden dazugestellt.


Ich besaß zwei Schildkröt-Puppen (3), dazu wünschte ich mir unbedingt eine Babypuppe. Am Heiligabend konnte ich es nicht mehr aushalten, ich „linste“ durchs Schlüsselloch ins Weihnachtszimmer. Und genau in meiner Blickrichtung sah ich eine wunderschöne Babypuppe bei den Geschenken auf dem Tisch sitzen. Aber zuerst mussten wir in die Kirche zur Christmette. Ich war so aufgeregt, dass ich dauernd murmelte: „Ich krieg eine Babypuppe, ich krieg eine Babypuppe!“ „Woher weißt du das? Vielleicht bekommst du ja gar keine Babypuppe“, sagte meine Mutter. Sie ahnte schnell, dass ich verbotenerweise durchs Schlüsselloch geschaut hatte.

Bei der Bescherung war keine Babypuppe zu sehen. Ich jammerte: „Aber ich hab doch eine Babypuppe gesehen. Da war wirklich eine.“ An diesem Tag durften wir aufbleiben, solange wir wollten.

Aber irgendwann gingen wir doch schlafen. Als ich schon an der Tür war, rief meine Mutter: „Renate, schau doch mal unter den Geschenktisch. Da scheint etwas heruntergefallen zu sein.“

Ich kletterte unter den Tisch und wirklich: Da saß sie, meine Babypuppe, in einem Babystühlchen. Meine Gundula, wie ich sie taufte, habe ich sehr geliebt. In einem anderen Jahr habe ich zu Weihnachten einen elektrischen Kinderkochherd bekommen, mit dem ich mich auf meine späteren ungeliebten Haushaltspflichten vorbereiten konnte.


Den „süßen Teller“ zu bestücken, wurde für meine Eltern während des Krieges und auch nach Kriegsende immer schwieriger – so wie die gesamte Ernährungslage sich verschlechterte. In unserer Nähe gab es eine Fabrik, die aus Eichenrinde oder Erbsenmehl eine Art Schokoladenpulver hergestellt hat, da Kakao als Rohstoff fehlte. Daraus zauberte meine Mutter so etwas wie Schokolade. Oft haben wir Mehlsuppe essen müssen.


Neuanfang nach dem Krieg

Am 29. April 1945 beschlagnahmten die Amerikaner unser Haus. Wir fanden bei Bekannten Unterschlupf. Nach sechs oder sieben Tagen kamen die Russen. Dann durften wir wieder in unsere Wohnung. Zu unserem Glück zogen die Russen nicht in unser Haus.

Ich bewundere meine Mutter heute nach so vielen Jahrzehnten, wie sie damals mit viel Kraft, Humor und Mut quasi als „Patriarchin“ alles im Griff hatte, alle Kinder und Erwachsene mehr oder weniger satt bekam und keiner schwer krank wurde. Streitereien, Neid und Eifersüchteleien schlichtete sie mit guten und liebevollen Worten.

[Anm.: In der DDR absolvierte Renate 1952 ihr Abitur, doch ein Studium nach Wunsch war in der DDR für Akademikerkinder fast unmöglich. In Westdeutschland schaffte es Renate, Medizin zu studieren]

Meine Lebensführung [Berlin/Würzburg] hatte sich mittlerweile gewandelt. Ich ging tanzen oder ins Kino, trug Petticoats und schminkte mich.

So traurig die Situation damals für mich war, so war ich doch froh, dass ich der väterlichen Strenge und pietistischen Enge meines Elternhauses entkommen war.


1967 war mein Vater sehr krank geworden, und da die medizinische Versorgung in der DDR schwierig war, hatten meine Eltern die Möglichkeit genutzt, als Rentner mit einem westdeutschen Pass in den Westen überzusiedeln. Sie zogen nach Westberlin. In der DDR war man froh, die Rentner loszuwerden.

[ca. 1957] Als ich mich auf das Staatsexamen vorbereitete, starb mein Vater an plötzlichem Herzversagen. Meine Mutter war nach dem Tod ihres Mannes sehr niedergeschlagen.


Schwieriges Leben mit meiner Mutter

[ca. 1970] In dem kleinen Würzburg wollte ich nicht bleiben. Ich hatte ein Stellenangebot in Düsseldorf. Da drängten mich meine Brüder, mich um meine Mutter zu kümmern. Ich könnte bei ihr wohnen. Die Stelle in Düsseldorf habe ich abgesagt. In Berlin habe ich die Stelle an einer Orthopädischen Klinik angenommen.


Das Leben mit meiner Mutter in Berlin war etwas schwierig. Ich mochte sie sehr, aber ich war plötzlich wieder die Tochter von 15 Jahren, die Rechenschaft ablegen sollte über jeden Schritt, den ich tat. Sie wollte alles wissen und an meinem Leben teilhaben. Ich hatte bei Mutter ganz die Rolle meines Vaters eingenommen, wurde umsorgt, bekocht, beraten und aber auch „überwacht“, denn über jede Stunde, die ich nicht mit Mutter in der Wohnung war, erhoffte sie einen Erlebnisbericht!

Möglichst alles wollte sie mit mir zusammen machen und erwartete, dass ich sie herumfuhr.


Mit meiner reiselustigen Mutter unternahm ich dann einige Reisen, nach Mexiko, Acapulco, Kanada, Orient, Thailand, Sri Lanka, Afrika. Auch Kreuzfahrten unternahmen wir, z. B. im Mittelmeer, nach Israel, Ägypten, Zypern und Kreta, aber auch zum Nordkap oder nach Westafrika und zu den Kanarischen Inseln.


Ohne meine Mutter in Düsseldorf

ca. 1971: Nach dem zweiten Jahr der Facharztausbildung in Berlin war ich entschlossen, Berlin zu verlassen und nach Düsseldorf zu ziehen. Meine Mutter weigerte sich mitzukommen, jammerte und weinte. Meine Mutter hatte als Kind in Düsseldorf gewohnt, aber sie wollte nicht von Berlin fort. Ich hätte auf jeden Fall darauf bestanden, dass jeder eine eigene Wohnung hatte. Ich setzte mich durch, auch wenn ich ein schlechtes Gewissen hatte. Aber ich war mittlerweile 39 Jahre alt und wollte mein Leben selbst gestalten ohne gut gemeinte mütterliche Einmischung. Meiner Mutter versprach ich, weiterhin jedes Jahr mit ihr eine Reise zu machen. So waren wir unter anderem in Bahrein, Kenia, Mexiko und auf den Malediven.


Im Februar 1979 verstarb meine Mutter ganz plötzlich. Dass mich diese traurige Nachricht tief traf, brauche ich wohl nicht zu beschreiben bei der so engen Beziehung, die ich zu meiner Mutter hatte.


(1) Der Pietismus ist neben der Reformation eine Reformbewegung im kontinentaleuropäischen Protestantismus. Viele soziale Anstalten (Waisenhäuser, Krankenhäuser), die heute vom Staat geführt werden, sind auf den Pietismus zurückzuführen.


(2) Der Ochsenziemer ist eine Schlagwaffe, die früher aus einem gedörrten Ochsenpenis hergestellt wurde. Er wurde früher zur Bestrafung von Menschen und Tieren eingesetzt.


(3) Die Schildkröt-Puppen und Spielwaren GmbH mit dem heutigen Sitz in Rauenstein/Thüringen ist der älteste Puppenhersteller (1896). Die „Schildkröte“ als Firmenlogo sollte mit ihrem harten Panzer das neuartige, robuste Material für Spielzeugpuppen, das Zelluloid, symbolisieren.


Auszug aus „Lebensglück mit Dornenstellen“, erzählt von Renate B., aufgeschrieben von Rosi A., Auszug bearbeitet von Achim K.

Foto: ThG/Pixabay

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