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Kein FDJ-Hemd – kein Abitur

Renate B., 1933 im Erzgebirge an der böhmischen Grenze in eine pietistische Pfarrerfamilie hineingeboren, berichtet über die Höhen und Tiefen ihres Lebens in der DDR (1). Ein Studium nach Wunsch war für Akademikerkinder fast unmöglich. Deshalb musste Renate ihren Wunsch, Ärztin zu werden, viele Jahre zurückstecken, in denen sie berufliche Umwege machen musste. In Westdeutschland schaffte sie es nach einer gescheiterten Ehe, endlich Medizin zu studieren und ihre Facharztausbildung zur Radiologin zu machen.


Meine Schulzeit in Wernigerode

Mein Vater Rudolf war Pfarrer in dem kleinen Dorf Breitenbrunn, das ungefähr 800 Einwohner hatte. Das Dorf lag in der Nähe der Kreisstadt Schwarzenberg (2). Ich hatte zwei ältere Zwillings-Brüder. 1931 kam dann noch ein Bruder zur Welt. 1934 folgte der Umzug nach Heidenau (3), im Frühjahr 1939 ging es in die zehn Kilometer entfernte schöne Kreisstadt Wernigerode (4).

Hier gab es das Fürst-Otto-Gymnasium, in das meine Brüder gingen, und das Fürstin-Anna-Lyzeum, das ich ab 1944 besuchte.


Meine Mutter – eine ehemalige Lehrerin – hat mich sehr bei den Schulaufgaben unterstützt. Ich hatte keine ausgesprochene Begabung für Sprachen, vor allem Latein und Englisch sind mir schwergefallen. Dabei konnte sie mir gut helfen. Auch wenn ich einen deutschen Aufsatz schreiben musste, hat sie mir Hilfestellung gegeben.

Ich habe lieber Klavier oder Geige gespielt. Die Schulfächer Mathematik, Biologie, Physik und Chemie waren meine Lieblingsfächer.


Ich behaupte heute, dass ich ohne die liebevolle Hilfe meiner Mutter bei den Schularbeiten (insbesondere bei Englisch und Latein) meine Schulzeit nicht so gut überstanden hätte und ohne eine „Ehrenrunde“ das Abitur machen konnte. Sie war sehr geduldig bei diesen Schularbeiten, aber es musste immer alles sehr korrekt sein, sonst wurde Mutter auch schon mal eine „strenge“ Lehrerin!


Fahrradfahren war in der Gegend um Wernigerode nicht so leicht wie in Heidenau, da es bergig war. Obwohl in der Stadt Wernigerode alles flach war, durfte ich nicht mit dem Fahrrad zur Schule fahren. Meine Brüder wohl! Zu Fuß ging ich 20 bis 25 Minuten quer durch die Stadt.

Es war damals unvorstellbar, dass Eltern ihre Kinder zur Schule gebracht hätten wie heute, obwohl mein Vater ja zeitweise ein Auto besaß, sogar eine Zeit lang mit Chauffeur.


Vom Krieg direkt haben wir kaum etwas mitgekriegt, außer natürlich die Lebensmittelknappheit. Da ging es uns weitaus besser als den Menschen in den großen Städten.


Hitler-Jugend und Bund Deutscher Mädchen

Meine beiden Zwillings-Brüder waren, wie wohl alle Jugendlichen, ab 1939 bei der Hitler-Jugend (5). Es gibt ein Foto, das sie beim Skilaufen zeigt. Beide tragen die HJ-Uniform.

Ab 1944 war ich beim Bund deutscher Mädel (6). Da ich gut singen konnte, durfte ich in den Singkreis und brauchte nicht an den BDM-Versammlungen teilzunehmen. Auch die Uniform musste ich nicht tragen.

1947 wurde mein Vater zum Leiter des Diakonissen-Mutterhauses der „Bekennenden Kirche“ (7) befördert. Das bedeutete, dass er mit der ganzen Familie nach Elbingerode (8) im Harz umziehen musste.


Die große Schulreform nach dem Krieg

Nach dem Krieg änderte sich in der Schullandschaft einiges. Nach den Amerikanern hatten die Russen Sachsen-Anhalt übernommen, was den meisten Menschen gar nicht gefiel.

Aber die ehemaligen Kommunisten, die in Moskau ausgebildet worden waren, bekamen jetzt die zentralen Posten in der Verwaltung.

Es kam eine Schulreform. Die alten Schulnamen wurden abgeschafft und es gab nur noch Volks- und Oberschulen mit Koedukation. 1952 habe ich Abitur gemacht, nachdem ich 1948 auf die Oberschule gekommen war. Bis dahin war ich Schülerin des Fürstin-Anna-Lyzeums gewesen. Damals begann es, dass in der DDR besonders die Arbeiter- und Bauernkinder gefördert wurden. Zunächst war es eigentlich eine gute Sache! Später ging es dann aber soweit, dass Akademikerkinder benachteiligt wurden.


Kirchenchor statt FDJ – erst Mobbing, später Entschuldigung

Die Arbeiter- und Bauernkinder in meiner Klasse hatten viel nachzuholen, denn sie waren ja vorher nicht wie ich auf einer Oberschule gewesen. Sie kamen immer in einem FDJ-Hemd (9) zur Schule und trugen SED-Anwärterzeichen (10). Eine Schulkameradin habe ich mal gefragt, warum sie immer mit der blauen Bluse zur Schule kam. Die Bluse stank fürchterlich, weil sie so selten gewaschen wurde.

Sie behauptete, dass sie gar keine andere Bluse besäße. Mir als Nicht-FDJ-Mitglied wurde unter anderem vorgeworfen, ich könnte nicht dialektisch denken. Es war keine schöne Schulzeit mehr. Viele Jahre später – nach der „Wende“ – hat sich mein Abiturjahrgang wiedergetroffen. Einige meiner ehemaligen Klassenkameraden haben sich bei mir entschuldigt, weil sie mich damals schikaniert hatten. Heute würde man sagen, ich sei gemobbt worden. Sie bedauerten, dass sie damals nicht fair zu mir gewesen waren.


In der DDR wurde von jungen Menschen erwartet, dass sie zu den Jungen Pionieren gingen, später in die FDJ. Bis zum Schluss habe ich mich geweigert. Ich war die einzige in meiner Klasse. Nicht-Mitglieder wurden sehr bedrängt. Ich war im Kirchenchor, in der jungen Gemeinde, im Schüler-Bibelkreis, wo ich mich wohlfühlte. Diese kirchlichen Gruppen wurden nicht gern gesehen, denn in der DDR sollte die Kirche ausgeschaltet werden. Die SED passte also überhaupt nicht in unser Weltbild. Man wurde allerdings nicht gezwungen, in die FDJ einzutreten.


Abitur nur unter Zwangsmitgliedschaft

In der Schule gab es sehr viel politischen Unterricht, z. B. über die russische Revolution, den Marxismus, Leninismus etc., was mir gar nicht gefiel. Das Fach hieß „Gegenwartskunde“. Kurz vor dem Abitur kam dann der Direktor in unsere Klasse und sagte: „Hier in dieser Klasse ist jemand, die noch nicht in der FDJ ist. Wir haben Anweisung von oben, dass alle Abiturienten in der FDJ sein müssen, sonst wird die gesamte Klasse nicht zum Abitur zugelassen.“

Daraufhin wurde ich von meinen Mitschülern bestürmt, in die FDJ einzutreten.


Meine Eltern, denen ich zu Hause davon erzählte, rieten mir, in die FDJ einzutreten, da es nicht zu verantworten war, dass die ganze Klasse nicht zum Abitur zugelassen worden wäre.

Es blieb mir also nichts anderes übrig als Mitglied zu werden. Dadurch wurde die ganze Klasse zum Abitur zugelassen. Sofort nach dem Eintritt bekam ich einen Posten in der FDJ. Ich sollte den Mitgliedsbeitrag kassieren. Jeden Monat musste man einen „Zehner“ bezahlen, deshalb hieß die Posten auch „Zehnerkassierer“. Sogar auf meinem Abiturzeugnis stand dann bei „Politische Betätigung“: „FDJ-Mitglied und Zehnerkassiererin“.


Note 2 in Englisch nutzlos – Russisch nachlernen

Mein Abiturzeugnis war bis auf eine „vier“ in Russisch zufriedenstellend. Russisch hatte ich nachlernen müssen, denn man musste jetzt bis zum Abitur Russisch gelernt haben.

Meine Mitschüler hatten bereits sechs Jahre Russisch in der Schule gehabt. Dieses Nachlernen war mühsam, denn ich musste mit einigen anderen „Schicksalsgenossen“ früher zur Schule kommen oder länger bleiben und sogar samstags kommen. Vorher hatten wir Englisch und Latein als Fremdsprachenfächer gehabt, dann wurde Englisch als Fremdsprache abgeschafft. Meine mühsam erarbeitete „2“ in diesem Fach erschien nicht auf dem Abiturzeugnis.

In der DDR gab es für die Schüler fünf Notenwerte, eine Vier war ein genügend.

Latein wurde in einer Arbeitsgemeinschaft weiter als Fremdsprache unterrichtet, was mir später beim Medizinstudium sehr geholfen hat. Beim Abitur mussten alle die gleiche Russischprüfung ablegen, was ich natürlich ungerecht fand. Ich weiß noch, dass wir etwas über Puschkin schreiben mussten.


Meine Brüder haben 1948 Abitur gemacht, sie haben diese Veränderungen im Schulleben nicht mehr mitmachen müssen. Da sie durch den Wehrdienst ein Jahr verloren hatten, waren sie zurückgestuft worden. Meine beiden älteren Brüder durften aber nach dem Abitur erst nach einer Bewährung in der Produktion studieren.


(1) Die Deutsche Demokratische Republik (DDR) war ein Staat in Mitteleuropa von 1949 bis 1990, der aus der Teilung Deutschlands nach 1945 entstand. Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) errichtete auf Betreiben der sowjetischen Besatzungsmacht ein diktatorisches Regime, das bis zur friedlichen Revolution im Herbst 1989 existierte. Offizielle Staatsideologie war der Marxismus-Leninismus.

(2) Schwarzenberg ist eine Kreisstadt im Erzgebirge.

(3) Heidenau ist eine Stadt im Landkreis Sächsische Schweiz/Osterzgebirge

(4) Wernigerode ist eine Stadt und ein staatlich anerkannter Erholungsort im Landkreis Harz Sachsen-Anhalt).

(5) Die Hitler-Jugend (HJ) war die Jugend- und Nachwuchsorganisation der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP). Sie wurde ab 1926 nach Adolf Hitler benannt und unter der Diktatur des Nationalsozialismus in Deutschland ab 1933 zum einzigen staatlich anerkannten Jugendverband mit bis zu 8,7 Millionen Mitgliedern (98 Prozent aller deutschen Jugendlichen) ausgebaut.

(6) Der Bund Deutscher Mädel (BDM) war in der Zeit des Nationalsozialismus der weibliche Zweig der Hitlerjugend (HJ). Darin waren im Sinne der totalitären Ziele des NS-Regimes die Mädchen im Alter von 14 bis 18 Jahren organisiert. Außerdem gab es in der Hitlerjugend den Jungmädelbund (JM) für 10- bis 14-jährige Mädchen.

(7) Die Bekennende Kirche war eine Oppositionsbewegung evangelischer Christen gegen Versuche einer Gleichschaltung von Lehre und Organisation der Deutschen Evangelischen Kirche mit dem Nationalsozialismus.


(8) Elbingerode ist eine Bergbaustadt und staatlich anerkannter Erholungsort am Übergang der Hochebene des Unterharzes zum bergigen Oberharz.


(9) Das Blauhemd (auch: FDJ-Hemd oder FDJ-Bluse) war seit 1948 die offizielle Organisationskleidung der DDR-Jugendorganisation Freie Deutsche Jugend (FDJ). Bei offiziellen Anlässen mussten FDJ-Mitglieder ihr Blauhemd tragen. Es hatte einen Klappkragen, Schulterklappen und eine Brusttasche. Die unter 11-Jährigen waren die „Jungen Pioniere“.

Die Jugendlichen wurden auf entsprechenden Antrag ab dem Alter von 14 Jahren in die FDJ aufgenommen. Die Mitgliedschaft war laut Statut freiwillig, doch hatten Nichtmitglieder erhebliche Nachteile bei der Zulassung zu weiterführenden Schulen sowie bei der Studien- und Berufswahl zu befürchten und waren zudem starkem Druck durch linientreue Lehrkräfte ausgesetzt, der Organisation beizutreten. FDJ-Mitglieder konnten mit 17 Jahren bereits Anwärter für die SED werden.

(10) Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) war eine marxistisch-leninistische Partei, die 1946 in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands und der Viersektorenstadt Berlin aus der Zwangsvereinigung von SPD und KPD hervorgegangen war und sich anschließend unter sowjetischem Einfluss zur Kader- und Staatspartei der 1949 gegründeten DDR entwickelte. Da die Verfassung der DDR seit 1968 den Führungsanspruch der SED festschrieb und deren Nomenklaturkader die Organe aller drei Gewalten, Legislative, Exekutive und Judikative, durchdrangen, war das politische System der DDR de facto eine Ein-Parteien-Herrschaft der SED. Neben der SED gab es noch einige Blockparteien, die den Anschein einer Mehrparteiendemokratie erwecken sollten.


Auszug aus „Lebensglück mit 'Dornenstellen'“, erzählt von Renate B., aufgeschrieben von Rosi A., bearbeitet von Achim K.


Fotos: Gentle 7/Gerd Altmann / Pixabay



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