top of page

Antisemitismus in Moskau: Nach Deutschland ausgewandert

Rosa wurde 1923 als Jüdin in Weißrussland (heute Belarus, 1) in Weißrussland geboren, und ist mit ihrer liebevollen Familie aufgewachsen. Sie wähnten sich in einem Land, das eine "neue gerechte Gesellschaft von Gleichheit und allgemeinem Glück" baut. Dass sie Juden waren und was das für Rosa bedeutete, wurde ihr erst später bewusst. Rosa lebte in Moskau, hatte dort studiert und arbeitete in einer Militärmusikschule als Lehrerin. Sie hatte geheiratet und bekam 1953 eine Tochter. In den Jahren bis 1995 erlebten sie aufregende und unruhige Zeiten mit politischen Machthabern wie Stalin, Chruschtschow, Breschnew, Gorbatschow und Jelzin. Erst als sie 72 Jahren alt ist, beschließt die Familie auszureisen, weil sie wieder Antisemitismus fürchten.

Zwei Welten trafen in Rosa B.s Leben aufeinander: Judentum und Kommunismus (Symbolfotos: Jordan Holiay/PublicDomainPictures / Pixabay)


Leben in Russland

In Moskau (2) arbeitete ich als Lehrerin in einer Militärmusikschule. Nach dem Tod meines Vaters und meiner beiden Geschwister war meine Mutter mit meinem Mann und mir mit nach Moskau gekommen. Ich war dreißig Jahre alt, als unsere Tochter geboren wurde, und der Machthaber Stalin (3) starb.

Es gab Mutterschutzurlaub, und zum Glück war dann die Oma im Hause. Meine Mutter war für das Kind da, bis zum Kindergarten. Auch später hat sie auf die Enkelin aufgepasst, sie bekocht und im Wesentlichen den Haushalt der Familie geführt. So konnte ich nach acht Wochen ruhig zur Arbeit zurückkehren.

Es gab zwar Lebensmittel, aber auch „Defizit“-Mangel

Lebensmittel waren in dieser Zeit nicht mehr rationiert. Man hatte eher das Problem, gute Ware zu bekommen. Jeder kannte das Wort „Defizit“-Mangel.

Aber damit lernte man zu leben, jeder entwickelte seine eigene Strategie: mal in einer Warteschlange zu stehen, mal an einen Schacherer (4) mehr zu zahlen, immer bereit zu sein, etwas Gutes sofort zu schnappen, auch wenn es nicht gerade nötig ist.

Lebensmittelmangel entwickelt sich nach und nach innerhalb der 60er und 70er Jahre. Aber manche Betriebe hatten ein „Buffet“ für Mitarbeiter, verteilten Nahrungsmittelsets. Mein Mann bekam solche zu Festtagen, ich nicht.

Und ansonsten, das Meiste konnte man frei kaufen, auch wenn das Sortiment nicht groß war. Wichtig war, man sollte nicht kurz vor dem Feierabend im Geschäft auftauchen. Wir hatten das Glück in Moskau zu leben, wo die Versorgung besser war, als woanders. Unsere Verwandten aus Orjol nutzten jede Dienstreise nach Moskau, um Fleisch, Wurst und andere Fleischwaren mit nach Hause zu nehmen. Dort gab es das nämlich nur auf dem Markt und war sehr teuer. Wir versuchten auch, etwas zu bestimmten Zeiten für sie zu kaufen. So gingen viele vor.

Parfüm und Regenschirme

Andererseits erlebten wir dann in den 70ern einen gewissen Zustrom der Importwaren, die es früher nicht gab. Meistens war es Import aus den sozialistischen Ländern wie Polen, DDR, Tschechoslowakei, Jugoslawien. Aber es tauchten auch französische Parfümerie oder Büstenhalter der Marke „Triumph“, italienische oder österreichische Schuhe, japanische faltbare Regenschirme auf. Und unsere Familie hatte den Vorteil, dass mein Mann als Mitarbeiter eines Warenhauses ab und zu etwas Schönes ohne Warteschlange und ohne extra Zuzahlung für seine Familie kaufen konnte.


Foto: privat/Barbara H.


Übrigens: Maßanfertigung von Kleidern war gar nicht teuer und weit verbreitet, es gab viele Nähateliers.Ich ließ auch Kleidung nähen und hatte wie auch viele andere eine Stammzuschneiderin.

Kulturelle Angebote

Wir haben gerne gelesen, abonnierten ständig ein paar Zeitungen und Zeitschriften. In den Zeitungen waren für uns nicht so die aktuellen Informationen interessant (die waren sowieso immer „gefiltert und stark ideologisch geprüft“) sondern Feuilletons oder Diskussionen zu gesellschaftlich bedeutsamen Themen.

Unsere beliebten Zeitschriften waren die populärwissenschaftliche „Nauka i Schisn“ (d.h. „Wissenschaft und Leben“) und Literaturzeitschriften. Das waren Zeitschriften, wo die neuen Werke – Prosa (meist als Fortsetzungsreihen), Poesie und Literaturkritik – veröffentlicht wurden, bevor sie als Bücher erschienen. Neben einigen Zeitschriften für einheimische Literatur gab es auch eine speziell für ausländische Literatur, die auch so hieß: „Inostrannaja Literaturaq“ (d.h. „Ausländische Literatur“), und die hatten wir auch abonniert, wie auch altersgemäße Medien für unsere heranwachsende Tochter. Gute Bücher von berühmten Autoren waren ständig Mangelware. Wir besaßen allmählich eine Hausbibliothek mit mehreren hundert Bänden.

Sehr beliebt: Fellini-Filme im Kino und Theater

Relativ oft haben wir in unserem Stadtteil ein ziemlich großes Kino besucht. Die Karten waren spottbillig, etwas teurer waren Abend-Karten in den besten Reihen. Man hat damals nicht so viele neue Filme gedreht. Es wurde sofort bekannt, was sich lohnen würde, anzuschauen. Man hatte auch ausländische Filme eingekauft, vor allem Komödien oder Abenteuerfilme. Es liefen bei uns „Fantomas“, und die „Angélique“-Reihe, aber auch Filme von Fellini und manch anderen großen Regisseuren, die letzteren zwar meist in kleineren Sälen.

Es gab auch viele verschiedene Theater in Moskau, einige waren besonders beliebt. Damit war es aber nicht so einfach wie mit dem Kino. Je beliebter das Theater bzw. das Stück war, desto schwerer war es, Karten dafür zu kriegen. Es bestand eine Praktik, als Zugabe dazu noch Karten für eine unpopuläre Aufführung zu verkaufen, oder einfach etwas mehr an die Kassiererin zu bezahlen – wenn man sich kannte. In den 70ern habe ich dann auch so eine Bekanntschaft geknüpft und wir konnten uns mehrere gute und vom Publikum beliebte Stücke ansehen.

Der Westen: Das andere Weltbild

Es gab noch eine – nicht wirklich legale – Freizeitbeschäftigung, die mein Mann besonders mochte. Er saß abends oft vor dem Rundfunkempfänger und versuchte, russischsprachige Programme aus dem Westen zu empfangen. Das ging nicht problemlos, man versuchte ständig, gezielt die Sender zu übertönen. Doch es gelang irgendwie nicht immer. Er konnte manchmal sogar ganze Programme von BBC, Voice of Amerika, Deutsche Welle mithören. Diese Sender teilten uns manche Nachrichten mit, die in unseren Zeitungen nicht standen, und übermittelten überhaupt ein anderes Weltbild.

„Angefaulter“ Kapitalismus, Zensur und Spitzel

Das Land hatte die echt grausigen Zeiten für immer überstanden, doch man konnte sich auch nicht wirklich frei fühlen. Es herrschte Zensur. Nicht jedes Buch oder Theaterstück oder jeder Film bekam d Erlaubnis, veröffentlicht bzw. dem Publikum gezeigt zu werden. Manche alten bzw. übersetzten Bücher waren im Spezchran (einer Sonderaufbewahrungsstelle) gesperrt und nur für jemanden mit Sondererlaubnis zugänglich.

In den Medien wurden Erfolge unserer Wirtschaft und unseres Sozialsystems lobgepriesen und „angefaulter Kapitalismus“ beschimpft. Doch jeder wusste aus eigener Erfahrung Bescheid über „unsere Erfolge“. Und dass es den meisten „einfachen Leuten“ bei „angefaultem Kapitalismus“ gar nicht schlecht ging, war auch allgemein bekannt. Offiziell verbotene Literatur wurde heimlich kopiert und von Hand zu Hand weiter gegeben. Solches Handeln war ziemlich verbreitet, konnte aber auch gefährlich sein. Spitzel gab es überall, doch richtig verfolgt wurden nur diejenigen, die als konsequente Systemfeinde erkannt wurden. Es gab auch politische Gefangene und Strafpsychiatrie. Ihre Opfer wurden üblicherweise einer öffentlichen Hetzkampagne ausgesetzt. Wir waren diesen Kreisen eher fern, wie auch die meisten „normalen Bürger“. Bei allem Misstrauen gegenüber dem System wagten nur sehr wenige irgendeinen aktiven Widerstand.

Auch nach dem Krieg: Juden wurden benachteiligt

Und als Jude spürt man noch mehr Druck. Die Themen, die mit Juden zu tun hatten, wurden ungern öffentlich besprochen. Wenn schon, dann halblaut und unter „ideologisch richtigem Blickwinkel“. Als Beispiel: Zionismus (5) – der wurde immer scharf kritisiert als „menschenfeindliche Ideologie“, man konnte kaum ahnen, dass es dabei einfach nur um einen eigenen Staat für Juden ging.

Und jeder wusste, dass bestimmte Tätigkeitsbereiche und bestimmte Karrieren für Juden so gut wie verboten sind. Was unter Stalin unmittelbar nach dem Krieg begonnen hatte, blieb auch danach. Man ließ jüdische Studienbewerber in den Eintrittsprüfungen bei Unis und angesehenen Hochschulen gezielt durchfallen, indem man so schlaue Fragen stellte, dass sie keiner beantworten konnte, oder irgendwelche Unvollkommenheit in der schriftlichen Arbeit fand. Man hat die Juden zu wichtigen Posten nicht zugelassen.

Das alles war keine strenge Regel, erst recht stand es nirgendwo geschrieben. Es gab ja auch Ausnahmen, um vorzugeben, dass es Lüge und Verleumdung sei, dass Juden benachteiligt würden. Einen Juden gab es sogar in dem Ministerrat der UdSSR. Kurz gesagt, man musste als Jude drei mal so gut sein – oder sehr viel Glück. Deshalb haben wir unsere Tochter nach der Schule für den Beruf des Ingenieur-Ökonom angemeldet, obwohl sie sich für Literatur und Geisteswissenschaften interessierte. Sie hat es jedoch später geschafft, sich auf literarische Übersetzung und Journalistik zu qualifizieren.

Wohnen in Moskau und Rente mit 60

Es war 1977, mein Mann war nach schwerem halben Jahr mit 56 Jahren gestorben. Wir lebten damals mit sechs Personen samt Baby in unserer Zweizimmerwohnung. Meine Tochter lebte mit Mann und Kind im hinteren Raum und im vorderen Zimmer lebte ich mit meinem Mann und meiner Mutter. Mein Mann konnte sich noch als Kriegsveteran für die Tochter und den Schwiegersohn einsetzen, damit sie eine eigene Wohnung bekamen.

Mein Mann war schon Kriegsbehinderter, er hatte ja einen halben Fuß im Krieg verloren. Als dazu noch die Krebserkrankung kam, war sein attestierter Behinderungsgrad am höchsten. Er stellte den Antrag auf eine andere Wohnung, und konnte mit echt schneller Entscheidung rechnen. Uns wurde eine Wohnung in einem neu aufgebauten Stadtteil am Rande der Stadt zugeteilt. Dorthin gingen die Kinder und wir sollten in der alten Wohnung bleiben. Doch die Kinder blieben zunächst bei uns. Man brauchte ja Zeit, eine neue Wohnung von Null an einzurichten. Und es gab anfangs so gut wie keine Infrastruktur, was für neue Stadtteile üblich war. Die wurde erst nach und nach aufgebaut. Und es gab noch keinen Kindergarten.

Zu jener Zeit konnten Mütter schon ein Jahr zu Hause bleiben. Die Arbeitsstelle wurde in dem Fall frei gehalten. Als mein Enkel ein Jahr alt wurde, gab es bei der neuen Wohnung noch immer keinen Kindergarten. So musste er zunächst in unserem Viertel betreut werden. Ich machte das auch manchmal. Es war sogar eine Erleichterung für mich, dass ich nach dem Tod meines Mannes nicht plötzlich nur mit meiner alten Mutter zurück in der Wohnung bleiben musste. Doch als der Kindergarten eröffnet wurde, zogen die Kinder um.

Ich arbeitete, bis ich 60 Jahre alt wurde, dann bin ich Rentnerin geworden. Doch selbst in der Rente hatte ich den Kontakt mit alten Kollegen und manchen meiner Schüler nicht verloren.

Meine Tochter und ihre Familie war in jener Zeit für mich das Wichtigste. Wir wohnten zwar weit entfernt voneinander, über eine Stunde Fahrt mit öffentlichem Verkehr, doch wir sahen uns oft und telefonierten jeden Tag. Später, als der Enkel zur Schule ging, hat er immer einige Tage während der Schulferien bei mir verbracht. Es hieß „bei den Omas“, als meine Mutter noch am Leben war. Sie verstarb im 92. Lebensjahr an Hautkrebs, fast genau zehn Jahre nach dem Tod meines Mannes. Sie war eine starke Frau, recht aktiv. Sie erledigte den Haushalt selbständig, bis sie blind wurde, wollte sich aber bis zuletzt selbst versorgen.

Die politische Lage

Im November 1982 verstarb Breschnew (6), der beinahe 20 Jahre lang an der Spitze der Macht gestanden hatte. Er war alt und krank. Keiner hatte mehr Respekt vor ihm, jeder hat ihn gerne ausgelacht. Nach Breschnew hatten wir zwei Staatsoberhäupter nacheinander, die ebenfalls krank und alt waren. Die beiden starben schnell.

Und im Frühling 1985 kam Mijail Gorbatchow (7), der jung war und für so einen Posten ambitioniert schien. Er hatte offensichtlich große Pläne für die Zukunft des Landes und hat sofort mit ihrer Umsetzung angefangen. Die neuen Schlagworte waren Perestroika und Glasnost – Umbau und Transparenz. Die Presse hatte jetzt viel mehr Freiheiten. Sie konnte nicht nur über Erfolge schreiben, sondern auch kritisch sein.

Organisierte Kriminalität

Viele hervorragende Literaturwerke, die früher verboten waren, konnten nun veröffentlicht werden. Manche Filme, die seinerzeit nicht zur Vorführung zugelassen und „auf das Regal gelegt“ wurden, kamen ins Kino. Es wurden private Unternehmen zugelassen, erst vorsichtig, in Form von „Kooperativen“, d.h. Genossenschaften. Es hat zunächst viel Bewegung in die Gesellschaft gebracht und große Hoffnungen geweckt.

Doch zugleich kamen viele Probleme an die Oberfläche. Erste Streiks, erste Arbeitslose, drastische Verschlechterung der Versorgung mit allernötigsten Dingen wie Lebensmittel. Das spürte man vor allem. Die Läden waren schon fast ganz leer, in der Warteschlange bekam man nur begrenzte Mengen der Lebensmittel pro Person (echte Rationierung mit Lebensmittelkarten wurden trotzdem nicht eingeführt). Für bestimmte Konsumwaren brauchte man Coupons. Nach einiger Zeit kam die Liberalisierung der Preise, es hieß „Schocktherapie“. Alles wurde verdammt teuer, aber alle Theken waren auf einmal voll. In jener Zeit entstand – zusammen mit freien Unternehmen – auch etwas früher ungehörtes, und zwar „Racket“, d.h. Schutzgelderpressung. Die organisierte Kriminalität hat sich dann überraschend schnell entwickelt und angefangen, nach und nach den Einfluss in der Gesellschaft zu gewinnen.

Antisemitische Parolen

Damals hat auch mein Schwiegersohn, Geophysiker von Beruf, seinen Job verloren und begann mit ein paar Freunden, Fahrrad-Ersatzteile und Werkzeuge auf dem Markt zu verkaufen. Zum Glück konnte er damit den Lebensunterhalt bestreiten. Der halbwilde Markt hat damals viele Leute über Wasser gehalten. Und meine Tochter konnte zwar Arbeit wie Übersetzungen von Büchern bekommen, aber dafür gab es echtes Bettelgeld.

Zu den Auswüchsen der neuen Freiheit gehörte auch die sogenannte national-patriotische Bewegung. Es existierten schon früher halbwegs legale Kreise und Gruppierungen. Jetzt wurden sie legal. Als erste wurde die „National-patriotische Front Pamjat (russisch: Gedächtnis)“ berühmt. Es war ein echter Schock, offen geäußerte antisemitische Parolen zu hören und frei verkaufte antisemitische Broschüren zu sehen. Diese Leute präsentierten sich auch in TV-Diskussionen live, in ersten Talkshows, soweit es schon welche gab.

Schlimmer noch, es gab sogar deutliche Gerüchte über vorbereitete jüdische Pogrome (8). Wir bekamen in dem Zusammenhang mehrere Einladungen von Freunden, die bereit waren, uns bei sich zu verbergen und zu schützen. Es klingt vielleicht komisch, aber man rechnete kaum damit, dass der Staat keine Pogrome zulassen werde. Also, wir waren bereit, die Einladungen in Anspruch zu nehmen und waren, natürlich, den Freunden sehr dankbar.

Bei alledem war auch noch der Druck der Alt-Kommunisten ständig präsent, die gegen Modernisierung des Landes waren. Das endete mit einem Putschversuch am 19. August 1991. Der Putsch war zwar misslungen, denn die Mehrheit des Volkes wollte auf einen Fall zurück in die UdSSR-Zeiten, doch Gorbatschow konnte nicht weiter Präsident bleiben und die Sowjetunion war sofort zerfallen, wurde auf mehrere Länder aufgeteilt.

Zum Präsidenten von Russland wurde Boris Jelzin (9) gewählt.

Tabu-Thema Ausreise

In jener aufregenden und ruhelosen Zeit begannen meine Kinder, über Ausreise nachzudenken. Das war ein heikles Thema in der UdSSR. Offiziell existierte so etwas nicht, weil es quasi nicht existieren durfte. Ein glücklicher sowjetischer Bürger konnte sich nämlich nie einfallen lassen, das "beste Land der Welt" gegen irgendein anderes auszutauschen.

In der Tat sahen die Dinge etwas anders aus. Wenn wir mal über die 60er oder 70er Jahre reden, da gab es Emigranten aus der UdSSR. Unter den wenigen, die das Privileg hatten, das Ausland zu besuchen, gab es einige, die es sich vornahmen und tatsächlich schafften, abzuhauen. Das konnten zum Beispiel Leute des Geheimdienstes während ihrer Dienstzeit im Ausland oder Künstler während Gastspielreisen gewesen sein. Solche Leute wurden dann als Verräter abgestempelt, selbst ihre Namen wurden ausradiert – wenn nötig auch aus einem Filmtitel.

Zum anderen gab es Leute, die gezielt aus dem Land rausgepresst wurden. Das waren diejenigen, die mit der politischen Macht viel Ärger hatten, aber die sie nicht wegen ihres internationalen Rufes verfolgen konnten. Man kann in diesem Zusammenhang solche Persönlichkeiten erwähnen wie die beiden späteren Nobelpreisträger Joseph Brodsky (Poet) und den Schriftsteller Alexander Solschenizyn, oder den weltberühmte Cellist Mstislaw Leopoldowitsch Rostropowitsch mit seiner Frau, der Sängerin Galina Wischnewskyja. Natürlich wurden auch sie als Feinde des Heimatlandes eingestuft.

Es hatte zwar schon 1969 überraschend eine Ausreisemöglichkeit für Juden gegeben. Ein internationales Abkommen hatte zur Bedingung gemacht, dass man Juden aus der UdSSR nach Israel gehen ließ. So begann ein dünner Auswanderungsstrom aus Russland. Manche Auswanderer gingen tatsächlich nach Israel, einige wenige landeten in Europa, viele wählten Amerika aus. Keiner wusste im voraus, ob alles klappte. Der ganze Ausreiseweg war mit zahlreichen Schikanen verbunden – und es war eine echte Einwegstraße, jeder wusste Bescheid, nie wieder siehst du alle wieder.

Die Welt wurde kleiner

Doch die 1990er haben so vieles in Bewegung gebracht und verändert. Einerseits nahmen die Ereignisse im eigenen Land den Leuten die letzte Zuversicht weg. Andererseits bekam man jetzt mehr Informationen aus dem übrigen Europa und von der ganzen Welt. Man konnte erkennen, wie andere anderswo lebten. Es war viel leichter geworden, das Land zu verlassen, als Reise oder Auswanderung. Es gab andere Möglichkeiten, zum Beispiel ein Arbeitsvertrag im Ausland, was zahlreiche wissenschaftliche Mitarbeiter tatsächlich getan haben.

Die Welt wurde kleiner, konnte man sagen. In der näheren Umgebung gab es die eine oder andere Familie, die ausgereist war und man hatte Kontakt. Auch kamen Touristen ins Land, und es wurde jetzt nicht wie früher versucht, den Kontakt zu unterbinden. Meine Tochter konnte sogar in die USA zu Besuch fahren und sie kam zurück voller Eindrücke.

Deutschland war ein anderes Land geworden

Die Kinder entschieden, endlich auszuwandern. Ursprünglich hatten wir uns vorgenommen, nach Amerika zu gehen. Das war aber gerade zu dieser Zeit schwierig geworden, weil man Verwandte 1. Grades dort haben musste. Und da kam die Nachricht, dass Deutschland Juden aufnimmt. Anfangs waren wir ziemlich misstrauisch. Man hatte doch immer noch im Hinterkopf, dass ausgerechnet in diesem Land Juden mal auf schreckliche Weise verfolgt wurden. Doch ein Bekannter, der das Land kannte, hat uns dann erzählt, dass Deutschland heute ein ganz anderes Land geworden sei und man keine Bedenken haben müsse. Er hat uns überzeugt, Deutschland zu wählen.

Wir haben einen Antrag bei dem deutschen Konsulat in Moskau gestellt und bekamen nach einer längeren Wartezeit die Einreisegenehmigung. Ich war zum Zeitpunkt der Ausreise schon 72 Jahre alt. Wir machten uns Sorgen wegen meines Enkels, aber es stellte sich als erstaunlich leicht und einfach heraus – es war tatsächlich eine liberale Zeit in Russland!


Aufnahmelager Unna-Massen

Wir kamen im Oktober 1995 mit einem Bus nach Deutschland. Das war kein spezieller Bus für Auswanderer, sondern einer, der die reguläre Busverbindung Moskau – Deutschland fuhr. Es ging über Polen nach Berlin und von dort nach Unna-Massen (Bundesland Nordrhein-Westfalen) in das Aufnahmelager. Es war damals voll mit „Russen“, d.h. mit Spätaussiedlern und Juden aus Russland. Wir bekamen schnell die Einweisung nach Düsseldorf.


Foto: privat/Barbara H.


Und hier wurden wir direkt in ein Containerdorf im Stadtteil Lörick gebracht. Als wir plötzlich wieder in der Enge in einem Zimmer wohnten, so wie ganz früher, war es ungewohnt. Wir hatten Stockbetten darin, ein Waschbecken und einen Herd. Es gab gemeinsame Toiletten und Dusch-Kabinen. In einem Extra-Container gab es Waschmaschinen und Trockner für alle.

Auf dem dicht besiedelten Gelände war man nie alleine, aber wir waren ja bereit, alles leicht zu nehmen. Es gab sogar Vorteile: Man war unter sich und es gab schon andere, die länger da waren. Sie konnten erzählen, wie es hier in Deutschland zuging, die Regeln erklären, wo man einkauft, wie man fährt usw.

Grünes Gras im Herbst und kein Schnee

Für uns war es komisch, dass spät im Herbst das Gras grün war und viele Pflanzen ebenso. In Russland wäre zu dieser Zeit bereits alles kahl gewesen und es hätte klirrende Kälte geherrscht. Und Mitte bis Ende November käme der erste Schnee, der dann bis Ende des Winters bleiben würde.

Ungewöhnlich waren auch manche alltäglichen Dinge: dass es sehr viele Blumengeschäfte und Apotheken gibt, sehr viel unterschiedliche Dekorationsartikel verkauft werden, dass Obst und Gemüse frei vor den Türen der Läden herausgestellt werden. Ungewöhnlich war auch, dass man sich den Arzt frei auswählen kann und dass wir Briefe von Behörden bekamen, was zunächst schwierig war, diese zu lesen und zu verstehen. Die deutsche Bürokratie ist gegenüber der russischen sehr geordnet. Wir schlossen unsbauch sofort der jüdischen Gemeinde Düsseldorf an – das bot einen wichtigen Lebenshalt.

Für akademisch gebildete Zuwanderer gab es kaum Arbeit

Für meine Familie gab es hier in Düsseldorf Sprachkurse, doch für mich nicht mehr. Mit 72 Jahren war ich zu alt dafür. Die Kinder gingen bald zum Kurs, für meinen Enkel gab es einen Sprachkurs der Otto-Benecke-Stiftung e.V., danach das Studienkolleg – ein typischer Weg für die jungen Einwanderer, die in Deutschland studieren wollten. Er studierte danach an der Kölner Universität Wirtschaftsinformatik. Meine Tochter fand nach einigen Jahren Arbeit bei einer recht großen russischsprachigen Zeitung in Deutschland. Die Hauptredaktion befindet sich in Berlin, aber es gab noch mehrere lokale Ausgaben, darunter in Nordrhein-Westfalen, die jedoch später eingestellt wurde. Mein Schwiegersohn wurde Hausmeister, hatte aber nur eine zeitlich begrenzte Anstellung. Danach waren beide auf Arbeitslosengeld angewiesen. So ging es leider nicht selten den Zuwanderern aus Russland, besonders den Akademikern, wenn sie im Alter zwischen 40 und 50 nach Deutschland gekommen sind. In dem Alter nahm sie der Arbeitsmarkt nicht mehr auf. Es gab aber auch bessere Beispiele. Dafür ist die nächste Generation, die als Kinder und Jugendliche hingekommen sind, meist erfolgreich. So arbeitet auch mein Enkelsohn nach der Uni im IT-Bereich als Business-Analytiker.

Ich selbst war ja schon lange Rentnerin, doch es gab für uns Rentner keinen bilateralen finanziellen Austausch, so wie bei den Spätaussiedlern. Für sie wird die Arbeitszeit in Russland angerechnet. Für uns Juden, als sogenannte Kontingent-Flüchtlinge, gibt es das nicht. Ich hatte vierzig Jahre gearbeitet, doch das wurde leider nicht beachtet. So bin ich Sozial-Rentnerin.

Mir wurde geholfen

Ich habe ziemlich früh nach meiner Ankunft in Deutschland einen Schwerbehindertenausweis und daraufhin bald eine abgeschlossene Wohnung in einem Seniorenhaus bekommen. Sie wurde durch das Wohnungsamt der Stadtverwaltung Düsseldorf vermittelt. Es ist eine schöne Wohnung – ich fühle mich hier ganz wohl.

In meinen ersten Jahren konnte ich noch an einigen kurzen Reisen mit Führungen teilnehmen und schöne Orte in Deutschland und in den Nachbarländern sehen. Ich besuchte früher auch gerne Veranstaltungen der jüdischen Gemeinde.

Jetzt gehe ich kaum aus, nur mit meiner Tochter zusammen, denn ich bin fast blind und kann auch nicht so gut gehen. Aber hier zu Hause finde ich alles, was ich brauche. Hier kenne ich mich aus, weiß, wo alles steht. Meine Tochter kümmert sich um mich und ich bekomme noch Hilfe von einer Pflegefirma. Ich habe alles was ich brauche und meine Familie ist da. Es geht mir gut. Gott sei Dank.

Und ich lebe immer noch nach dem Prinzip, das mir immer im Leben geholfen hat: „Tue alles, was du kannst und noch ein bisschen mehr.“

(1) Belarus, im deutschen Sprachraum auch Weißrussland genannt, ist ein osteuropäischer Binnenstaat. Politisches und wirtschaftliches Zentrum ist die Millionenstadt Minsk. Belarus grenzt an Litauen, Lettland, Russland, die Ukraine und Polen.

Das Land entstand 1991 aus der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik, die durch die Auflösung der Sowjetunion unabhängig wurde. Seit 1994 ist Aljaksandr Lukaschenka … der autoritär und repressiv regierende Präsident von Belarus, weshalb das Land häufig als „letzte Diktatur Europas“ bezeichnet wurde. Den mutmaßgeblichen Ergebnisfälschungen der Präsidentschaftswahl in Belarus 2020 folgten wochenlange landesweite Proteste und Streiks gegen Lukaschenkas Regierung. Die Demonstrationen wurden mit äußerster Brutalität niedergeschlagen. Das Büro des Hohen Kommissars der Vereinigten Nationen für Menschenrechte sprach im September 2020 davon, dass man Berichte von über 450 dokumentierten Fällen von Folter und Misshandlungen erhalten habe. Seither haben die Proteste nachgelassen, die Lage der Menschenrechte hat sich aber noch weiter verschlimmert. … Belarus liegt im Zentrum des ursprünglich jüdischen Ansiedlungsgebietes des Zarenreiches. Die jüdische Minderheit war daher ehemals sehr stark vertreten und bildete vor dem Zweiten Weltkrieg die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe, in manchen Städten mit einem Anteil von über 50 Prozent sogar die Bevölkerungsmehrheit. In Folge des Holocausts fiel die jüdische Minderheit auf belarussischem Gebiet jedoch auf rund 1,9 Prozent der Bevölkerung (etwa 150.000) im Jahr 1959. Diese Zahl sank in den Folgejahren weiter, vor allem durch Abwanderung nach Israel, stark beschleunigt nach der Öffnung des Landes zwischen 1989 und 1992. 2009 wurden nur noch 12.926 (0,1 Prozent) Juden gezählt. ...


(2) Moskau ist die Hauptstadt der Russischen Föderation. Mit rund 13 Millionen Einwohnern (Stand 2021) ist sie die größte Stadt ...


(3) Josef Wissarionowitsch Stalin (1878 – 1953) war ein sowjetischer kommunistischer Politiker georgischer Herkunft und Diktator der Sowjetunion. … Er beteiligte sich an der Oktoberrevolution, spielte eine bedeutende Rolle im Russischen Bürgerkrieg. Nach dessen Ende und den krankheitsbedingten Ausscheiden Lenins als Führungsfigur begann Stalin, die alleinige Macht im kommunistischen Russland bzw. der Sowjetunion zu übernehmen. … Er war Generalsekretär des ZK der KPdSU, Vorsitzender des Rates der Volkskommissare (Regierungsschef), Vorsitzender des Ministerrats der UdSSR und Oberster Befehlshaber der Roten Armee. … Unter Stalins Führung wurde das Konzept des Sozialismus zum zentralen Grundsatz der sowjetischen Gesellschaft. … Das führte zu einer Transformation der UdSSR von einer Agrar- zu einer Industriegesellschaft, was Hungersnöte auslöste, denen ungefähr sechs Millionen Menschen zum Opfer fielen. Die daraus resultierende Hungerkatastrophe von 1930 – 33 kostete ca. 1,3 bis 1,5 Millionen Menschenleben. …


(4) Schacher ist ein deutsches Pejorativum, das Feilschen, Geschäftemacherei und gewinnorientiertes unlauteres Verhalten bezeichnet. Die Vokabel wurde im Antisemitismus zur Denunziation angeblich typisch jüdischen Verhaltens verwendet.


(5) Zionismus bezeichnet eine Nationalbewegung und nationalistische Ideologie, die auf einen jüdischen Nationalstaat in Palästina zielt, diesen bewahren und rechtfertigen will.


(6) Leonid Iljitsch Breschnew (1906 – 1982) war ein sowjetischer Politiker. Er war von 1964 bis 1982 Generalsekretär der KPdSU, von 1960 bis 1964 sowie von 1977 bis 1982 als Vorsitzender des Präsidiums des Obersten Sowjets Staatsoberhaupt.


(7) Michail Sergejewitsch Gorbatschow (1931 – 2022) war ein sowjetischer Politiker. Er war von 1985 bis 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und von 1990 bis 1991 letzter Staatspräsident der Sowjetunion. Neue Akzente in der sowjetischen Politik setzte er mit Glasnost (Offenheit), einem Bekenntnis zur Meinungsfreiheit und Perestroika (Umbau), insbesondere mit der Abschaffung der Planwirtschaft. In Abrüstungsverhandlungen mit den USA leitete er das Ende des Kalten Krieges ein. Er erhielt 1990 den Friedensnobelpreis.


(8) Der oder das Pogrom (Verwüstung, Zertrümmerung) steht für Hetze und gewalttätige Angriffe gegen Leben und Besitz einer religiösen, nationalen oder ethnischen Minderheit mit Duldung oder Unterstützung der Staatsgewalt. … Der Begriff entstand aus dem antijüdischen Ausschreitungen im zaristischen Russland … Der Begriff entwickelte sich in der Sowjetunion weiter und war nicht mehr auf antijüdische Gewalt beschränkt, sondern wurde auch auf politische Unruhen, ab 1989 auf interethnische Gewalt angewandt. Im Westen hingegen blieb die antijüdische Bedeutung erhalten, bei Betonung der staatlichen Planung oder zumindest Billigung …


(9) Boris Nikolajewitsch Jelzin war ein sowjetischer bzw. russischer Politiker. Von 1991 bis 1999 war er der erste Präsident Russlands und zudem das erste demokratisch gewählte Staatsoberhaupt in der Geschichte Russlands.


Alle Quellen: wikipedia

Auszug aus „Tue alles was du kannst und noch ein bisschen mehr“, erzählt von Rosa B., aufgeschrieben von Eva S. (2010), bearbeitet von Barbara H. (2023)

Comments


bottom of page