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Dorfschulalltag in Thüringen: Bräuche, Regeln, Rituale

Hans L. kommt 1929 im 300-Seelen-Dorf Kirchengel in Thüringen (1) zur Welt. Seine Eltern betreiben ein Wirtshaus mit angeschlossener Schlachterei, Kolonialwarenladen (2) und Poststelle. Seine Kindheit ist geprägt durch das heile, dörfliche Leben, aber auch die Auswirkungen des Nationalsozialismus und des 2. Weltkrieges. 1950 flieht er aus der DDR in den Westen, mit dem Ziel Krefeld. Das war der Beginn einer beeindruckenden beruflichen Karriere und einer großen Liebe in Westdeutschland. Seine Verbindung zu seinem Heimatdorf hat er aber nie verloren.



Einschulung in Kirchengel: Schultütenbaum, Klassenraum und Tornister

Ostern 1936 kam ich in die Schule, mit sechseinhalb. Meine vier Freunde waren alle etwas jünger als ich. Vor der Einschulung mussten wir regelmäßig in die Schule, um den Baum, an dem die Schultüten wuchsen, zu gießen. Er stand im Keller der Schule. Das Gießen hat sich wirklich gelohnt: Ich bekam zum Schulanfang eine große Zuckertüte mit Süßigkeiten und Obst.

In unserem Dorf gab es eine Volksschule. Die Klassen 1-8 wurden gemeinsam in einem Klassenraum unterrichtet, von nur einem Lehrer für alle Fächer. Oft kümmerten sich die Großen um die Kleinen. Die Jüngsten saßen vorn, die Älteren hinten. In unseren Tornistern hatten wir eine Schiefertafel mit nassem Schwamm und einem trockenen Tuch.


Der Stock des Lehrers

Der Lehrer war sehr streng und hatte einen Stock. Wer Blödsinn gemacht hatte, wurde über die Bank gelegt und bekam den Arsch verhauen. Einmal hatte unser Lehrer seinen Stock zerbrochen. Er beauftragte die Älteren, ihm auf dem Friedhof einen neuen vom Fliederbusch zu besorgen. Auch ich wurde mal verdroschen, warum, weiß ich nicht mehr. Das habe ich dann zu Hause erzählt. Und da hat der Vater gesagt: „Komm mit!“ – „Wohin?“ – „Komm! Wir gehen mal zum Lehrer. Den nehm ich mir zur Brust!“ Und das hat er gemacht. „Wenn du noch einmal meinen Sohn schlägst, da kriegst du aber mit mir Krach! Den erzieh ich selber!“ Von da an hat der mir nix mehr getan.


Mit Fahrrad und Pferdeschlitten zur Realschule

Meine Brüder und Schulfreunde blieben bis zur 8. Klasse in der Dorfschule, aber ich ging nach der 4. Klasse in die nächstgrößere Stadt, Greußen, zur Realschule. Dafür musste ich eine Aufnahmeprüfung ablegen.


Greußen ist sieben Kilometer von Kirchengel entfernt. Ich fuhr bei Wind und Wetter mit dem Fahrrad. Unser Dorf lag hoch, die Stadt unten im Tal. So war ich morgens schon nach einer Viertelstunde in der Schule, nachmittags musste ich schieben. Das dauerte dann eine ganze Stunde. Wenn sich die Gelegenheit ergab, hängte ich mich auch mal an langsam fahrende LKW an. Andere Klassenkameraden kamen aus Westerengel, Feld und Holzengel. Wir trafen uns dann unterwegs und fuhren ein Stück zusammen. Mein erstes Fahrrad hatte ich mir mit Kirschen pflücken zusammengespart. An den Straßenrändern gab es überall Obstbäume. Im Winter war es hart. Wenn der Schnee sehr hoch lag, konnte ich mit den Kindern von Heinrich, die ebenfalls zur Realschule nach Greußen gingen, mitfahren. Da kam dann der Knecht mit dem großen Pferdeschlitten und hat uns zur Schule gebracht. Falls die Straßen geräumt waren, gab es auch einen Bus, der über die Dörfer nach Greußen fuhr. Die Kirchengeler Hauptstraße war „Staatsstraße“, deshalb war der Staat dafür verantwortlich, sie im Winter zu räumen. Wenn es doch mal gar kein Durchkommen gab, habe ich während der Schulwoche bei weitläufigen Verwandten in Greußen gewohnt.


Rituale: „Heil Hitler“, Parole, Lied und Klassenwochendienst

In meiner Klasse waren etwa 30 Schüler, Jungen und Mädels. Links vom Mittelgang saßen die Mädchen, rechts die Jungs. Vorn stand das Katheder. Die Schulbücher mussten wir selbst bezahlen, konnten sie aber meistens vom vorhergehenden Jahrgang günstig übernehmen. Ansonsten gab es in Greußen einen Buchladen, der sich auf Schulbücher spezialisiert hatte. Geschrieben haben wir dann schon mit Tinte. In ein „Agenda-Buch“ wurden die Hausaufgaben eingetragen.


Die erste Schulstunde am Morgen begann mit ‚Heil Hitler‘ und einer wöchentlich wechselnden Parole, die wir aufsagen mussten. Zum Beispiel „Hermann Göring“. Danach wurde ein Lied gesungen, und dann ging der Unterricht los.


Die Schulstunden dauerten eine Dreiviertelstunde. Danach hatten wir zehn Minuten Pause. Die Frühstückspause war etwas länger. Zwei Schüler wurden jeweils für den Klassenwochendienst (KlaWoDi) eingeteilt. Sie mussten die Tafel schön sauber putzen und für den Erdkundeunterricht die Karten aus dem Ständer raussuchen und aufhängen. Unterrichtszeit war normalerweise von acht bis ein Uhr, samstags kürzer. Am Nachmittag traf ich mich weiterhin mit meinen alten Freunden in Kirchengel.


Guter Start – trotz Sütterlin und „mir und mich“

Am Anfang war es auf der Realschule nicht so ganz einfach für mich. In Kirchengel hatte ich noch die Sütterlin-Schrift (3) gelernt. In Greußen schrieben sie schon in der neuen lateinischen Schrift. Aber obwohl ich sonst ein recht fauler Schüler war, hat es gut geklappt. Was mir schwergefallen ist, war Deutsch. Zum Beispiel „mir“ und „mich“, das konnte ich nicht auseinanderhalten. Da war ich ein Spätzünder. Aber Englisch habe ich gut gemacht. Der Englischunterricht begann direkt in der Sexta. In der Quarta kam Latein dazu. Französisch erst später, das habe ich nicht mehr gelernt. Latein war interessant. Der Sohn vom Direktor, der damals 16 oder 18 war, hat manchmal seinen Vater vertreten. Da wurde dann nichts Neues gemacht, sondern erzählt.


Der leergefutterte Mispelbaum

Der Biologie-Unterricht fand manchmal im Freien, im Schulgarten, statt. Dort stand ein Mispel-Baum. Zu der Zeit, als die Früchte gerade reif waren, wurde unsere Lehrerin – wir nannten sie mit Spitznamen „Miss Miss“, denn damals durften Lehrerinnen nicht verheiratet sein – vom Hausmeister ans Telefon gerufen. Kaum war sie weg, hat die gesamte Klasse den Mispel-Baum gestürmt und leergefuttert. Als sie wiederkam, hat sie die Hände über'm Kopf zusammengeschlagen, den Direktor geholt, und dann ging´s los: „Wer war das? Wer hat ...“ Aber alle haben zusammengehalten, die Mädchen auch. Es wurde nicht denunziert. Worin sollte nun die Strafe bestehen? „Die Mädchen kriegen einen Eintrag ins Klassenbuch.“ – „Und die Jungs?“ – „Ihr kommt mit mir ins Lehrerzimmer.“ Wir wurden einzeln reingerufen und kriegten drei Schläge auf den Arsch.


Fliegerangriffe und Attentat auf Hitler

Es war ja Krieg. Während des Fliegeralarms waren wir Schüler von außerhalb eingeteilt, mit den Greußenern in deren Keller zu gehen. Das haben wir aber nie gemacht. Wir wussten: Wenn Fliegeralarm ist, das dauert sowieso. Da sind wir nach Hause gefahren. Gegen Kriegsende wurde es dann aber doch gefährlich. Ich war mit einem Freund - der musste nach Feldengel - unterwegs, als wir von einem Tiefflieger beschossen wurden. Zu unserem Glück war die Sicht für den Flieger wegen der Obstbäume am Straßenrand nicht optimal. Als es losging mit „bum-bum-bum“, sind wir mit einem Sprung vom Fahrrad in den Straßengraben gehechtet. An dem Tag war der Beschuss so intensiv, dass die Bauern gar nicht aufs Feld konnten. Das war furchtbar. Der Freund brachte am nächsten Tag die leeren Hülsen mit zur Schule.


Wir hatten einen Mathematiklehrer, und plötzlich hieß es: Mathematik fällt aus. Den hatten sie nach dem Attentat auf Adolf Hitler (4) weggeholt. Er war dann eine Woche in Buchenwald. Sie konnten ihm aber nichts nachweisen, und er kam wieder zurück. Wir waren natürlich neugierig, wie Kinder so sind. „Nein, nein“, sagte er, „von mir hört ihr nichts.“ Er war wirklich ein guter Lehrer.


(1) Kirchengel ist ein Ortsteil der Stadt und Landgemeinde Greußen im Kyffhäuserkreis in Thüringen.

(2) Als Kolonialwaren wurden früher, besonders zur Kolonialzeit, überseeische Lebens- und Genussmittel, wie z. B. Zucker, Kaffee, Tabak, Reis, Kakao, Gewürze und Tee bezeichnet. Kolonialwarenhändler importierten diese Produkte, die in Kolonialwarenläden und -handlungen verkauft wurden.


(3) Die Sütterlinschrift, meist einfach Sütterlin genannt, ist eine im Jahr 1911 im Auftrag des preußischen Kultur- und Schulministeriums von Ludwig Sütterlin entwickelte Ausgangsschrift für das Erlernen von Schreibschrift in der Schule. Die deutsche Sütterlinschrift ist eine spezielle Form der deutschen Kurrentschrift für Schreibanfänger. Daneben entwickelte Ludwig Sütterlin auch eine stilistisch entsprechende lateinische Ausgangsschrift, die jedoch nicht als Sütterlinschrift bezeichnet wird.


(4) Das Attentat vom 20. Juli 1944 war der bedeutendste Umsturzversuch des militärischen Widerstandes in der Zeit des Nationalsozialismus. Als Voraussetzung für einen Machtwechsel, auch unter dem Gesichtspunkt des „Eides auf den Führer“, galt den Verschwörern die Tötung Adolf Hitlers. Hitler überlebte jedoch die Explosion der am 20. Juli 1944 im Führerhauptquartier Wolfsschanze von Claus Schenk Graf von Stauffenberg deponierten Sprengladung mit leichten Verletzungen.


Auszug aus „Eine Prophezeiung erfüllt sich“, erzählt von Hans L., geschrieben von Eva J., bearbeitet von Uwe S.


Foto: cocoparisienne/Pixabay


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