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Leben in Weißrussland, "bestes Land der Welt": Ziemlich blauäugig

Rosa B. wurde 1923 in Weißrussland geboren, mit ihrer liebevollen Familie aufgewachsen. Sie wähnten sich in einem Land, das eine "neue gerechte Gesellschaft von Gleichheit und allgemeinem Glück" baut. Dass sie Juden waren und was das für Rosa bedeutete, wurde ihr erst später bewusst. Rosa lebte in Moskau, hatte dort studiert und arbeitete in einer Militärmusikschule als Lehrerin. Sie hatte geheiratet und bekam 1953 eine Tochter. In den Jahren bis 1995 erlebten sie aufregende und unruhige Zeiten mit politischen Machthabern wie Stalin, Chruschtschow, Breschnew, Gorbatschow und Jelzin. Erst als sie 72 Jahren alt ist, beschließt die Familie auszureisen, weil sie wieder Antisemitismus fürchten.


Statue von Wladimir Lenin, Anführer der Oktoberrevolution, vor dem Allrussischen Ausstellungszentrum (VDNKh) in Moskau, Russland

(Foto: OudsidEscape/Pixabay)

In der Familie sprach man nicht über Sorgen

Als ich fünf war, ist unsere Familie in eine andere kleine Stadt umgezogen, weil mein Vater dort eine Arbeitsstelle gefunden hatte. Weißrussland (1) gehörte zum ehemaligen Ansiedlungsrayon (2), der zwar nach der Revolution abgeschafft worden war, doch in den beiden Städten, wie auch in anderen rundherum, gab es nach wie vor eine zahlreiche jüdische Bevölkerung.


Ich hatte Mutter, Vater, zwei Omas (eine Oma, die Mutter meiner Mutter, ist mit uns umgezogen und lebte immer in unserer Familie), ebenfalls meine Schwester Bella und der jüngere Bruder Samuil (Mulja). Und wir hatten viele Verwandte: mehrere Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen. Einige lebten in der Nähe, die anderen sind irgendwann umgezogen und lebten nun ganz weit entfernt, aber sie kamen als Gast, meistens im Sommer.


Wir waren überzeugt, im "besten Land der Welt" zu leben, das eine neue gerechte Gesellschaft von Gleichheit und allgemeinem Glück baut.


Jetzt ist allgemein bekannt, dass es keine schöne Zeit war. Es gab Hunger in Powolschje (Wolgaregion) und in der Ukraine, es gab Zwangskollektivierung (3), Massenrepressalien und den GULAG (4). Hinzu kam eine erbärmliche Qualität an heimischen Waren und ständiger Mangel am Nötigsten.


Doch wir haben das zum Teil nicht gewusst und zum Teil auch nicht wahrgenommen. Meine Eltern fühlten sich vielleicht nicht immer so glücklich, aber sie teilten ihre Sorgen nicht mit uns. Wenigstens war es so in meiner Familie.

Die Macht der Propaganda

Ich lernte schon in der Schule die Geschichte der Oktoberrevolution (5) und des darauffolgenden Bürgerkrieges. Das hat man uns als Spitzenereignis der menschlichen Geschichte beigebracht, als Zeit voller Kampf für Gerechtigkeit und des Heldentums beschrieben. Es hieß: Die Imperialisten (6) der ganzen Welt wollten unsere junge Republik erwürgen, aber wir haben es durchgestanden. Wir wussten alles über schwere Lebensumstände der unterdrückten Massen im Zarismus und den Klassenkampf in anderen Ländern und hatten großes Mitgefühl mit dem Leiden der Arbeiter in der kapitalistischen Welt. Und wir blickten mit Zuversicht in die Zukunft.

In der Tat hat die Oktober-Revolution das Leben im ganzen Land tiefgreifend verändert. Wir haben wichtige Errungenschaften gewonnen, wie Gleichheit aller Völker des multiethnischen Landes, Gleichheit der Männer und Frauen.

Es ging nach dem Motto: „Wer NICHTS war, wird ALLES sein“. Einfache Menschen bekamen Zugang zur Bildung und damit neue Perspektiven im Leben. Allerdings wurden die „Vormaligen“, das heißt Angehörige der alten „Ausbeuterklasse“, bedrängt und litten nun unter Rechtsbeschränkungen (später wurde das abgeschafft). Russland, ein ehemaliges Agrarland, wo es viele Analphabeten gab, sollte im Schnelltempo eine industrielle Macht werden.


Die Industrialisierung brachte das ganze Land in Wandel. Wir, die junge Generation, lebten damals voller Zuversicht und Enthusiasmus und hatten unser sozialistisches Vaterland heiß geliebt. In unserer Stadt gab es in den 30er Jahren auch, wie überall, Vorfälle, dass Leute ohne Grund ins Gefängnis geworfen wurden.

Und wir dachten: „Wie heimtückisch war der oder jener!“ Wir hatten ihn doch für einen anständigen Menschen und Patrioten gehalten und nicht vermutet, dass er so schwarze Pläne geschmiedet haben sollte. Heute weiß ich, wir waren ziemlich blauäugig.



(1) Belarus, im deutschen Sprachraum auch Weißrussland genannt, ist ein osteuropäischer Binnenstaat. Politisches und wirtschaftliches Zentrum ist die Millionenstadt Minsk. Belarus grenzt an Litauen, Lettland, Russland, die Ukraine und Polen.

Das Land entstand 1991 aus der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik, die durch die Auflösung der Sowjetunion unabhängig wurde. Seit 1994 ist Aljaksandr Lukaschenka … der autoritär und repressiv regierende Präsident von Belarus, weshalb das Land häufig als „letzte Diktatur Europas“ bezeichnet wurde. Den mutmaßgeblichen Ergebnisfälschungen der Präsidentschaftswahl in Belarus 2020 folgten wochenlange landesweite Proteste und Streiks gegen Lukaschenkas Regierung. Die Demonstrationen wurden mit äußerster Brutalität niedergeschlagen. Das Büro des Hohen Kommissars der Vereinigten Nationen für Menschenrechte sprach im September 2020 davon, dass man Berichte von über 450 dokumentierten Fällen von Folter und Misshandlungen erhalten habe. Seither haben die Proteste nachgelassen, die Lage der Menschenrechte hat sich aber noch weiter verschlimmert. …

Belarus liegt im Zentrum des ursprünglich jüdischen Ansiedlungsgebietes des Zarenreiches. Die jüdische Minderheit war daher ehemals sehr stark vertreten und bildete vor dem Zweiten Weltkrieg die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe, in manchen Städten mit einem Anteil von über 50 Prozent sogar die Bevölkerungsmehrheit. In Folge des Holocausts fiel die jüdische Minderheit auf belarussischem Gebiet jedoch auf rund 1,9 Prozent der Bevölkerung (etwa 150.000) im Jahr 1959. Diese Zahl sank in den Folgejahren weiter, vor allem durch Abwanderung nach Israel, stark beschleunigt nach der Öffnung des Landes zwischen 1989 und 1992. 2009 wurden nur noch 12.926 (0,1 Prozent) Juden gezählt.


(2) Als Ansiedlungsrayon wird das Gebiet im europäischen Westen des Russischen Kaiserreiches bezeichnet, auf das zwischen Ende des 18. und Anfang des 20. Jahrhunderts das Wohn- und Arbeitsrecht der jüdischen Bevölkerung beschränkt war. Das Gebiet war zuvor größtenteils Bestandteil Polen-Litauens gewesen und mit den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts unter russische Herrschaft gelangt.

Der Ansiedlerrayon, der sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckte, umfasste mehr als eine Million Quadratkilometer. Dort leben Ende des 19. Jahrhunderts beinahe fünf Millionen Juden, die nach dem offiziellen Zensus von 1897 11,46 Prozent der Bevölkerung ausmachten. Der jüdische Bevölkerungsanteil im übrigen Russischen Reich lag bei 0,38 Prozent …

Geschichte: 1791 wurde durch einen Erlass der Zarin Katharina II. festgelegt, dass Juden nur innerhalb bestimmter Gebiete leben und arbeiten durften …

(3) Bei der Zwangskollektivierung in der Sowjetunion wurden ab 1929 fast alle Bauern gezwungen, ihre individuellen Höfe aufzugeben und sich sozialistischen Großbetrieben anzuschließen. Bis 1931 wurde etwa die Hälfte der Bauern in diese Betriebe eingegliedert, bis 1936 fast alle übrigen. Die Maßnahmen mussten gegen großen Widerstand der Bauern durchgesetzt werden. Viele schlachteten ihr Vieh, um es der Enteignung zu entziehen, einige zerstörten auch ihre landwirtschaftliche Ausrüstung.

Zur Durchsetzung der Zwangskollektivierung wurden Millionen Bauern in unfruchtbare Regionen umgesiedelt oder in Zwangsarbeitslager deportiert (Entkulakisierung). Infolgedessen sank zunächst das Potenzial der landwirtschaftlichen Produktion.

Obwohl die Lebensmittelproduktion zurückging, ließ die Sowjetführung große Mengen an Lebensmitteln requirieren, um diese auf dem Weltmarkt zu verkaufen und Kapital für die Industrialisierung zu gewinnen.

Die Maßnahmen verursachten 1932/33 eine große Hungersnot, der nach verschiedenen Schätzungen 5 bis 9 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Die Erfahrungen des Holomodor führten zu starken Unabhängigkeitsbestrebungen der Ukraine. Letztlich gelang es, die Bauern in die kommunistische Staatswirtschaft einzugliedern und die Industrialisierung voranzutreiben, wobei die Zwangskollektivierung in ökonomischer Hinsicht viel mehr geschadet als genutzt hat.

(4) Das Kürzel Gulag bezeichnet das Netz von Straf- und Arbeitslagern in der Sowjetunion. Im weiteren Sinn steht es für die Gesamtheit des sowjetischen Zwangsarbeitssystems, das neben Lagern und Zwangsarbeitskolonien auch Sonderlager des MWD, Spezialgefängnisse, Zwangsarbeitspflichten ohne Haft sowie in nachstalinistischer Zeit ebenfalls einige psychiatrische Kliniken als Haftverbüßungsorte umfasste. Im weitesten Sinn ist das gesamte sowjetische Repressionssystem gemeint.

(5) Die Oktoberrevolution (25. Oktober / 7. November 1917) war die gewaltsame Machtübernahme durch die kommunistischen Bolschewiki unter Führung Wladimir Lenins in Russland. Sie beseitigte die aus der Februarrevolution hervorgegangene Doppelherrschaft der sozialistisch-liberalen Provisorischen Regierung unter Alexander Kerenski und des Petrograder Sowjets. Dies führte zu einem mehrjährigen Bürgerkrieg und nach dessen Ende 1922 zur Gründung der Sowjetunion, einer Diktatur der Kommunistischen Partei Russlands.

In realsozialistischen Ländern gewöhnlich „Große Sozialistische Oktoberrevolution“ und als Wendepunkt der Menschheitsgeschichte glorifiziert, betrachteten die Gegner der Bolschewiki die Oktoberereignisse als bloßen Staatsstreich, dessen Ergebnisse sich erst nach einem blutigen Bürgerkrieg verfestigten.

Der Begriff Oktoberrevolution wurde bewusst geprägt, um das Geschehen gegenüber der vorausgegangenen Februarrevolution aufzuwerten, die immerhin die Abdankung Zar Nikolaus II. und das Ende der russischen Monarchie bewirkt hatte… Der Jahrestag wurde stets am 7. November begangen.

(6) Als Imperialismus bezeichnet man das Bestreben eines Staatswesens bzw. seiner politischen Führung in anderen Ländern oder bei anderen Völkern politischen und wirtschaftlichen Einfluss zu erlangen, bis hin zu deren Unterwerfung und zur Eingliederung in den eigenen Machtbereich. Typischerweise geht das damit einher, eine ungleiche wirtschaftliche, kulturelle oder territoriale Beziehung aufzubauen und aufrecht zu erhalten.

… Der Begriff … wurde im 16. Jahrhundert geprägt und galt damals als Negativbezeichnung für eine auf Militärmacht und … im Gegensatz zum Rechtsstaat basierende Herrschaft.

alle Quellen: wikipedia

Auszug aus „Tue alles was du kannst und noch ein bisschen mehr“, Lebenserinnerungen von Rosa B.M.; aufgeschrieben von Eva S.; bearbeitet von Barbara H. (2023)

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